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Buchtipp: Poesie der Vergänglichkeit - Lost Places in den USA

Unser Autor Heiko P. Wacker war schon mehrfach in den USA unterwegs – und wunderte sich nicht nur einmal über die zahlreichen Zeugen der Vergänglichkeit, die man vor Ort findet. Doch eine derartige Sammlung, wie sie Heribert Niehues nun vorgelegt hat, die nötigte auch ihm allen Respekt ab.

 ©Verlag Delius Klasing

Jenseits aller politischer Dimensionen, und aktuell quillt uns die us-amerikanische Politik ja aus jeder Ritze entgegen, sind die USA ein durchaus faszinierendes Land voller Mobilität. Es ist absolut normal, für einen neuen Job tausende Kilometer in einen anderen Staat umzuziehen, ein Auto zu besitzen ist ein grundsätzliches Bedürfnis. Doch ebenso rasch werden Dinge, die man nicht mehr benötigt, bei Seite gelegt oder schlicht aufgegeben. Im Film „Cars“ wurde das schön in Szene gesetzt, der kleine Ort Radiator Springs verliert an Bedeutung, kaum dass die neue Interstate am Städtchen vorbeiführt. Die Motels und Restaurants schließen, Staub legt sich über die Häuser, die Hauptstraße zerfällt.

Die Realität sieht mitunter noch weitaus düsterer aus, ganze Orte werden verlassen, zuweilen steht dann noch die Pfanne auf dem Herd oder das Auto, das nicht mehr anspringen wollte, hinterm Haus. Und das Gras wächst erst auf der Veranda, und schließlich in den Dachrinnen – bis innen drin der Boden unterm Klavier nachgibt, und sich ein regelrechter Sperrmüllstrudel ins Untergeschoss entwickelt, und mit Spinnweben überzogene Stillleben für Sekunden zum Leben erwachen – um eine weitere Ebene des Zerfalls zu erlangen.

Wunderbar dokumentiert wird dies durch Heribert Niehues – und das ist ein Glück, dem renommierten Fotografen und Oldie-Fan ist das Talent gegeben, unzählige „Lost Places“ in ein regelrecht poetisches Licht zu setzen. Autos, Häuser, Diner: Mitunter steht alles noch genau so, wie es am Tag der Geschäftsaufgabe verlassen wurde. Das sind die Tankstellen, in denen vom Rost zerfressene Autowracks auf ihre letzte Tankfüllung warten, Motels, die noch vollständig möbliert sind, doch deren Dach bereits einstürzt, Wohnhäuser, vor denen noch die Flagge im Wind zauselt.

Nur die Natur und die Witterungseinflüsse verändern das Bild dieser Lost Places – und natürlich der Mensch, denn nicht nur bei Autos ist der Vandalismus der allergrößte Feind. Gerade die Straßenkreuzer der 1940er- und 1950er-Jahre scheinen indes extrem robust zu sein, wenn es gilt, Wind und Wetter zu trotzen. Und so manches Vehikel würde mit überholter Technik als echtes Schmuckstück über die Piste rollen, wenn auch patiniert natürlich. Es ist schon irre, was sich in den USA so alles die Räder in den Bauch steht, wobei wir wieder bei den Superhighways wären, die ab den 1950er-Jahren entstanden, und die alten Routen in Vergessenheit geraten ließen. Die „Route 66“ ist das bekannteste – aber längst nicht das einzige Beispiel. Gerade in den „Fly over-Staaten“ in der Mitte des Landes fand der Fotograf in einst blühenden Kleinstädten die Zeugen der Wirtschaftskrisen und katastrophalen Wetterphänomene – Stichwort „Dust Bowl“ der 1930er-Jahre. Dabei sind die Ghost Towns um so vollständiger erhalten, je abgelegener sie sind.

Stets sind diese Lost Places auch stumme Zeitzeugen unbekannter Schicksale, denen Heribert Niehues kein voyeuristisches, sondern ein würdiges Denkmal setzt. Immer wieder erstaunlich sind dabei die detaillierten Bildtexte, durch die man eine ganze Menge über die Geschichte us-amerikanischer Automobil- und Tanksäulengeschichte lernt, zumeist werden auch die exakten Baujahre angegeben. Und natürlich findet sich auch ein Bulli (wenn auch nur ein einziger, und auch noch ganz hinten im Buch), dem drei Bäume aus dem Radkasten wachsen, die den Fensterbus schon ordentlich in die Höhe gehoben haben: Der durchaus noch rettbare Hannoveraner hat seine Ruhestätte gemeinsam mit zahllosen anderen Relikten der Mobilität gefunden – in einem bewaldeten Grundstück im ländlichen Georgia, es ist der Bestand eines ehemaligen Autohändlers, hier rosten Jahrgänge ab 1918 vor sich hin. In stiller Würde – und liebevoll vom Fotografen in Szene gesetzt, wie auch alle anderen Motive, die sich in diesem nicht ganz billigen – dafür aber um so schöneren Bildband versammelt haben. Ein tolles Buch! Vielleicht sollte man nach Corona und dem Auszug der Trompete aus dem Weißen Haus mal wieder in die USA reisen …?

Heribert Niehues: Poesie der Vergänglichkeit. Lost Places in den USA. Verlag Delius Klasing Bielefeld 2020, 180 Seiten, 199 Fotos, gebunden, 27,9 x 29,6 cm, ISBN 978-3-667-11682-6, 49,90 Euro.

Heiko P. Wacker